Die Kunst von Franz Anatol Wyss
Die druckgraphischen Arbeiten (Radierung, Aquatinta, Vernis mou in wechselnden Verbindungen) haben Franz Anatol Wyss bekannt gemacht. Er zeigte sich früh als ein Meister der unterschiedlichen Techniken, der die Möglichkeiten der mehrteiligen Arbeitsvorgänge zur Steigerung des Strichs, zur Bereicherung der Schattenlagen souverän ausnutzte. Jetzt, im fünften Lebensjahrzent, zeigt er sich erstmals als Maler. Unlängst fand er in einer aufgegebenen Gewerbeliegenschaft geeignete Räumlichkeiten, die ihm den Umgang mit grossen Bildern ermöglichen, die also für wandbildgrosse Formate endlich akzeptable Bedingungen bieten, wie sie in den bisherigen Ateliers mit Zeichentisch und Druckstock nicht erwartet werden konnten, und sofort griff er zu. Franz Anatol Wyss ist ein Profi, er hält auf angemessene Bedingungen, er improvisiert nicht dort, wo die Geste der Improvisation mangelnde Sorgfalt kaschiert, er hatte also dem Wunsch zu malen, gross, aus dem Vollen zu malen nicht nachgegeben, bis die äusseren Voraussetzungen für einen Erfolg gegeben waren. Aber jetzt, als die selbstgestellten Bedingungen sich als erfüllt erwiesen, da drängten gewaltige Visionen in Gruppen, wechselnd zwischen Steigerung und Erschlaffung, ins Bild.
«Visionen» sind doch wohl der richtige Begriff, trotz der auffallenden Plastizität der Erscheinung, trotz ihrer Handgreiflichkeit, die suggeriert wird durch das genaue Ausführen der Schatten. Das Bildinventar ist einfach, immer wieder Berge, die man mit gutem Grund den Alpen zuweisen kann, viel blauer Himmel, häufig auch grüne Wiesen. Für den Betrachter, der einigermassen in Alpennähe wohnt, wirkt diese Bildbühne völlig alltäglich, und doch ist keine Örtlichkeit benennbar. Die Berge sind offensichtlich erfunden. Und wenn sich dann die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die « Möblierung» der Landschaft richtet, auf die Kuben und Obelisken, Pfeilerhallen und Treppenanlagen, Einbäume und Leitern, die nicht brauchbar und deshalb folgerichtig auch weitgehend frei von jedem Hinweis auf die Existenz von Mensch oder Tier sind, dann wird die Vermutung immer stärker, dass diese Bilder nicht nur erfunden wurden als Varianten neben anderen möglichen im Rahmen des Natürlichen, sondern dass sie Gleichnischarakter haben. Die Bilder von Franz Anatol Wyss bilden nicht ab, sondern stellen vor, sie sind überwertig, und dass sie dabei nicht zur illustrierenden Programmkunst verkommen, dafür sorgt eine Malfaust, die Erfahrung und Erlebnis, denen die Erscheinung mehrdeutig vorkommt, immer wieder in die Bildform zwingt. Der Kraftaufwand hat also ein Ziel. Das malerische Handwerk verhindert, dass gemalte Literatur entsteht. Davon gleich noch ein Wort mehr.
Franz Anatol Wyss ist Linkshänder. In der Schule wurde er gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben und zu zeichnen. Er hat sich an die Anpassung gewöhnt, benutzte also weiterhin die rechte Hand, auch als ein Zwang nicht mehr bestand. Als er begonnen hatte zu malen wie vor einer Wand, da entdeckte er nach einigen Tagen plötzlich, dass er ohne Vorbedacht, ohne Absicht den breiten Pinsel in der Linken führte. Er hat also gute Gründe, wenn er erklärt, Malen sei für ihn etwas grundsätzlich anderes als Zeichnen. War der Übertritt ins grosse Format eine selbstgewählte Herausforderung? Jedenfalls fällt auf: Die Neigung zur gedrechselten Form, zur Miniaturisierung, zur Linie, die sich beugt, wie um sich selbst betrachten zu können, das alles fehlt. Das Bildinventar wird einfacher, leichter übersehbar, auch leichter benennbar.
Gelegentlich äussert Franz Anatol Wyss im Gespräch, wenn er bei den grossen Formaten die Topographie, die räumliche Situation angelegt habe und dann an den Ausbau des Bildes gehe, dann locke es ihn, sich in das Bild zu versetzen und zu beobachten, wie es hinter den Kuben und Wänden aussehe, die sich dem Blick von vorn entgegenstellen. Der Maler erfährt also die Bildobjekte nicht einfach als malerischen Schein. Sie haben eine besondere Qualität der Existenz. Diese wird nachvollziehbar als besondere Plastizität. Und diese Plastizität wird betont durch die Einführung des Prinzips «Bild im Bild», Bild und Abbild oder gar Spiegel, wobei dieses Prinzip aber nicht logisch angewendet wird, sondern viele Variationen erfährt, etwa: ein Gewässer fliesst aus dem inneren ins äussere Bild, oder eine Wiese zieht sich zurück und lässt eine graue Wüste entstehen. Die Spiegelwand ist nicht neutral, sondern sie belebt mit starken Farben, was gegenüber, in einer anderen Realität, abgestorben scheint.
Franz Anatol Wyss will gute Bilder maIen, das ist das vorrangige Ziel. Alle Absichten des Ausdrucks werden deshalb zurückgeführt auf technische Aufgaben. Auch bei den grossen Formaten arbeitet er mit Acryl auf Papier. Es ist eine Technik der schnellen Realisation, die wenig Vorbereitung erfordert. Franz Anatol Wyss malt rasch, schwungvoll, gelegentlich bis an die Grenze des Pathos, aber nicht unkontrolliert. Wie gesagt, das Inventar ist vergleichsweise beschränkt, und bei der Farbe herrschen ein Blau (( Himmelblau»), ein Grün (( Grasgrün») und ein Rot (( Feuerrot») vor. Das Grau ist entweder farbig oder wird von lasierendem Weiss überzogen. Bei solcher Einfachheit der eingesetzten Mittel ist es erstaunlich, dass angesichts der reichen Produktion keineswegs der Eindruck von Wiederholung aufkommt. Franz Anatol Wyss inszeniert variantenreich, und darin zeigt sich dann sein starker Malinstinkt. Kaum je verzichtet er auf eine in die Tiefe führende Diagonale als Dominante, und Immer wieder schlägt die Tendenz zum Blick von oben, zur Vogelperspektive durch. Die Struktur des Bildes wird derart dynamisiert. Diese Bewegung wird scheinbar mühelos durchgehalten bis in die letzten Pinseltupfen, wenn Lila und Pfirsichblüte eine weissliche Wolke überziehen. Aber solche zarten Raffinessen bleiben die Ausnahme. Der Haupteindruck berichtet von Konzentration und Kraft.
Merkwürdiges trägt sich zu. Ein Instrument wie eine Heugabel, angelehnt an eine Wand, zeigt zarte Triebe. Eine Barke, unverkennbar ein Einbaum, verwandelt sich zusehends in einen Baumstamm. Aus einer Bergformation wird ein strenger und glatter Kubus geschnitten. Es gibt Beispiele, da steht dieser Kubus im Lot, es gibt andere, da neigt er sich, zerbricht. Ein Treppenlauf zwischen hohen Wangen erinnert an monumentale Kalenderinstrumente, wie wir sie aus Mexiko und Peru kennen. Feuerstellen treten auf, einmal glimmen sie mild, andere fressen sich in die Umgebung und machen einen wilden Rauch. Gibt es einen Sinn, der sich in solchen gegensätzlichen Einzelheiten finden lässt?
Ein Vorschlag wäre: Franz Anatol Wyss erfährt als sein grosses Thema den Kreislauf des Lebens, zu dem auch die scheinbar unbelebte Natur gehört. Kubus und Pyramide sind Menschenwerk, der Natur abgerungen, aber nur auf begrenzte Zeit, bis die stille Gewalt des verschwiegenen Lebens wieder die Oberhand gewinnt oder auch nicht, wenn denn der grosse Schlag kommen muss, der alles vernichtet. Aus dem Baum wird ein Einbaum, aus dem Ast ein Stiel, aber der Prozess verläuft auch umgekehrt, ein Boot wird wieder Baum und ein Stiel ein Ast, und so gibt es denn auch kein Besser oder Schlechter, sondern nur dauernden Wandel, zeitlos, seit Ewigkeiten im Wesen immer gleich bis heute, bis zur epochalen Erfindung einer totalen Vernichtungswaffe. Die Feuerstelle, die nicht zu löschen ist, weist darauf hin.
Franz Anatol Wyss hat auf Tschernobyl mit einem Bild reagiert. Er ist sich der permanenten Bedrohung allen Lebens bewusst, weil die Zeitung täglich voll von Warnzeichen ist, und die Last, die er als Familienvater, als Mitbürger empfindet, sucht er zu bewältigen, indem er seine Sorge, seine Angst auch, in künstlerische Gestaltung überführt. Das kann nie ganz gelingen, stets bleibt ein unbewältigter Rest, der dann Anlass ist zu je einem neuen Versuch. Dabei fliessen immer wieder Erfahrungen aus dem Alltag ein, die verhindern, dass eine Kopfkunst entsteht. Franz Anatol Wyss sah Photos aus der Antarktis mit einer Forschungsstation, die Überleben ermöglicht, ein roter Kubus in der Eiswüste: Menschenwerk positiv. In der Nähe seines Wohnorts Fulenbach im solothurnischen Gäu kennt er ein Stück unbenutzte Autobahn, das er von Zeit zu Zeit besucht, um zu beobachten, wie in kleinen Schritten die Natur wieder Besitz ergreift von dem, das ihr abgenommen wurde: Auf die Dauer ist Natur stärker. Möge es so bleiben.
Wolfgang Bessenich 1986