Franz und Anatol in einem

Wir sind uns gar nicht etwa zufälligerweise begegnet. Ich hatte in Zürich, an der Weiten Gasse 6, ein Zimmer gemietet, ein mehr oder weniger möbliertes. Und als ich einziehen wollte, war es besetzt, weil der Vorgänger nicht ausziehen wollte. Es liess sich dann im weitläufigen ersten Stock des Hauses eine Nische finden, die vorübergehend als Schlafplatz diente.
Beim Einrichten begegneten wir uns. Er - mein neuer Nachbar - war sehr misstrauisch, weil recht unterschiedliche Leute das Haus bewohnten. Und Anatol konnte nicht wissen, zu welchen ich gehörte; schliesslich wusste ich es selber noch nicht. Je länger wir uns dann aber gegenseitig mit den Wohlklängen solothurnischer Mundartsprache übergossen, desto mehr schwand Anatols Misstrauen. Das Solothurnische hat gekittet!
Franz und Anatol, Fulenbach und Zürich. Fulenbach bei Olten, zwischen der Aare und der ersten Jurakette, und Zürich, die Stadt, in die er sich neugierig begeben hatte. Alles gehört zusammen. Er ist nie nur das eine, er ist immer auch das andere. Aus dem Franz ist zwar der Anatol geworden, aber der Anatol ist immer auch der Franz geblieben. Künstler und Bauer, Träumer und Macher.
Einer der, knapp fünfundzwanzigjährig, von Fulenbach nach Zürich geht und sich einfach entscheidet, da an der Weiten Gasse nun freischaffender Künstler zu sein, ist kaum nur ein Fantast; er weiss auch, was er will, weiss oder ahnt mindestens, was er kann. Das hat dem anderen jungen Solothurner Eindruck gemacht. Eindruck machte auch Anatols Bekanntenkreis. Schlucken sagten wir damals und meinten Trinken, und wir gingen öfters eines schlucken. Regelmässig trafen wir dabei Leute, die Anatol kannte, die Anatol kannten, die sich zu ihm setzten, um über Gott und die Welt, über Kunst und das Leben zu reden. In Anatols und der Weiten Gasse Umgebung hatte ich damals in kurzer Zeit mehr Leute kennengelernt als vorher und nachher in Jahren. Anatol lernt nicht nur kennen, Anatol behält. Wer ihm einmal begegnet, wird irgendeinmal wieder von ihm hören. Anatol pflegt Umgang, Anatol hält Hof, Anatol ist gesellig, er ist allerdings auch ein Einzelgänger; nicht - von Alex Sadkowsky stammt das treffende Wort - ein «Alleinsamer», sondern ein Einzelgänger in der Herde. Sogar an der Fasnacht.
Kein Anatol ohne Fasnacht, keine Fasnacht ohne Anatol. Unter Anatols Händen wird Fasnacht zur Kunst. Seine Kostüme sind ebenso einzigartig wie seine Hüte, seine Tuba, sein geschminktes Gesicht. Nach ein paar Stunden Fasnacht wird regelmässig alles zu einem, nicht nur zu einem Bild, zu einer Erscheinung! Und als Erscheinung ist er im Verein der «Gugge» ein ständiger Solist. Anatol ist Fasnacht, in Zürich mindestens. In Fulenbach ist das anders. Da hat das Dorf die Fasnacht und die Fasnacht hat das Dorf. Da ist Anatol «Obernarr» , gehört zur Prominenz, in Zürich ist Fasnacht Kunst, Lebenskunst im hektischen Alltagsbetrieb.
Anatol ist Lebenskünstler, ist Geniesser, ein langsamer und ein vorsichtiger. Weil er in Fulenbach Beeren, Früchte und Gemüse wachsen und werden sieht, weil er ein Hand-Werker ist, der die liebe zum Detail pflegt, übt er auch Genuss mit Geduld. In Zürich vielleicht etwas hektischer, in Fulenbach etwas geduldiger. In Fulenbach ist schliesslich auch seine Familie, die ihren «Vattr» will, die sich um ihn sammelt.
Anatol ist Sammler. In seinem Hof in Fulenbach versammelt man sich gern; die grosse Wyss-Familie mit Geschwistern und Vettern trifft sich da ebenso wie sein Freundeskreis aus dem In- und Ausland. Es wird geredet, gearbeitet und gefestet. Feste gehören zu Anatol, wenn diese auch nicht immer zu seinem legendären Laubhüttenfest oder zu Wyssens unvergesslicher Dorfhochzeit auswachsen. Aus Anatols und Ediths Haus ist seither, seit ihrem Einzug, ebenso ein Schlupfwinkel geworden wie ein Museum, ein Lebens- und Arbeitsplatz wie ein Sammelsurium. Man geht über Treppen hinauf und hinunter, bewegt sich wie in einem Labyrinth und sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Doch nimmt man sich Zeit, stösst man auf Dinge und Dingelchen.
Alles und jedes in Anatols Haus trägt Spuren. Erinnerungen werden wach an Menschen, an Reisen, an Begebenheiten; Erinnerungen an die Weite Gasse 6, wo Anatols Raum ganz und gar ausgesehen hat wie eine Miniatur seines grossen Hauses in Fulenbach. Anatol behält, Anatol prägt auch; und nicht nur das Solothurnische ist wie Kitt an ihm haften geblieben.

Sigi Schär 1989

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